«Sucht ist das Gegenteil von Freiheit»

Sucht geht viele von uns etwas an, sei es als Betroffene, als Angehörige, als Freundinnen und Freunde von Betroffenen, als Beobachtende… Die Monatsveranstaltung der Grauen Panther Nordwestschweiz vom 2. Juni im Oekolampad stellte das Thema Sucht in vielfältige Bezüge und zeigte Möglichkeiten zur Unterstützung auf – allerdings ohne Erfolgsgarantie.

«Sucht – Was geht mich das an?», lautete der Titel dieser von Ursina Baumgartner und Marc Joset moderierten Veranstaltung. Sicher blieb niemand im Publikum unberührt von den Ausführungen der Fachleute und der Betroffenen. Es gibt eine Vielzahl von Abhängigkeiten, von Cannabis und Kokain über Medikamente bis zur Glücksspiel- und Gaming-Sucht mit jeweils ähnlichen Mechanismen. Hier ging es in erster Linie um Alkohol. Laut Bundesamt für Statistik sind (geschätzt) rund 250’000 Menschen in der Schweiz davon abhängig.

Einsamkeit ruft nach Alkohol

Martin Kofmel (Blaues Kreuz/Multikulturelle Suchtberatung MUSUB) zeigte auf, dass ältere Menschen speziell anfällig sind für Suchtverhalten. Abschied vom Beruf, Verlust von Tagesstrukturen, sozialem Umfeld, von Bestätigung und Macht – Einsamkeit in unterschiedlichsten Formen verleitet zum vermeintlichen Gegenmittel Alkohol. Aus Gewohnheit entsteht Sucht. Gleichzeitig nehmen im Alter die körperlichen Ressourcen ab, unter anderem auch Widerstandsfähigkeit gegen Suchtmittel. Schutzfaktoren sind: Optimismus, Teilnahme an der Gesellschaft, Ziele, die man erreichen möchte.

Kofmel stellte vier Fragen, die zum Reflektieren des eigenen Verhaltens anhalten sollen: «Hatten Sie jemals das Gefühl, Sie müssten Ihren Alkoholkonsum reduzieren?» – «Haben Sie sich jemals über Kritik an Ihrem Trinkverhalten geärgert?» – «Hatten Sie jemals wegen Ihres Trinkens Gewissensbisse?» – «Hatten Sie je das Gefühl, Sie müssten morgens Alkohol trinken, um den Tag besser zu beginnen?»

Oft kommen Angehörige von möglichen Betroffenen in die Beratung des Blauen Kreuzes – leider oft zu spät. Martin Kofmel ermunterte dazu, die Menschen anzusprechen, allerdings nicht mit Vorwürfen, sondern in dem man beispielsweise bittet, persönliche Fragen stellen zu dürfen. Die eigenen Beobachtungen und das Angebot von Hilfeleistung sollten als «Ich-Botschaften» verkleidet werden. «Das Dümmste, was man machen kann, ist nichts tun.»

Am Anfang ein Feierabendbier

«Ich war ein Feierabendbier-Trinker», berichtete ein 70-jähriger betroffener Mann. Er hatte im Jahr 2020 den Abschied vom Beruf und gleichzeitig die Isolation der Covid-Zeit zu bewältigen. Der Bierkonsum nahm stetig zu bis zu zwölf Flaschen am Tag. Folge davon waren Schlaflosigkeit, Erstickungsanfälle, Angstzustände. Diesen begegnete er wiederum mit Bier.

In der Folge wurde er ins Spital eingeliefert, wo man ihm dringend riet einen Entzug zu machen. «Eines Tages stand ich vor dem Spiegel und sagte mir: Entweder du änderst dein Leben, oder du gehst zugrunde.» Die Beratung des Blauen Kreuzes, Gesprächsgruppen und Psychiatrie halfen ihm, wieder auf die Beine zu kommen. «Ich glaubte, immer alles selbst lösen zu müssen. Das war falsch.» Inzwischen lebt er seit vier Jahren vollständig ohne Alkohol. Gegenüber dem «kontrollierten Konsum», der oft propagiert werde, sei er skeptisch.

«Ein Sonntagskind»

Der Soziologe Ueli Mäder hat mit dem Buch «Mein Bruder Marco» ein persönliches Portrait, aber auch die vielschichtige Analyse eines Alkoholiker-Schicksals geschrieben. Einerseits ist da eine familiäre Disposition, die beim einen Bruder zur Arbeitssucht, beim anderen ins Trinker-Elend führt. Dann ein christlich-soziales Milieu, aus dem Engagement für Schwächere, aber auch eine gewisse Selbst-Überhöhung entstehen kann. Hinzu kommt, zu Beginn der Sucht, die Unterschätzung der Wirkung des Alkohols und die Überschätzung der eigenen Fähigkeit zur Resistenz.

Eindrücklich und lebendig schilderte Mäder dem Panther-Publikum sein Verhältnis zu dem mit vielen Talenten und Fähigkeiten ausgestatteten «Sonntagskind», das einen so verhängnisvollen Weg einschlug. Er verschwieg auch nicht seine ganz unterschiedlichen, letztlich erfolglosen Versuche zur Unterstützung und Beeinflussung. «Ich kann ihm als Angehöriger zwar helfen, aber ich kann mir nicht anmassen, ihn aus dieser Situation herauszuheben.»

Grösste Hilfe: Wertschätzung

Stephan Rüedi ist Leiter Wohngruppen im «Sternenhof», Basel, wo unter anderem Menschen mit «Suchtmittelhintergrund» ein Zuhause finden. Hier besteht kein Anspruch auf Abstinenz. «Unser Anspruch heisst: Wir sind auf Augenhöhe wertschätzend unterwegs», betont Rüedi. Alle Bewohnerinnen und Bewohner trügen einen Rucksack dessen Gewicht und Inhalt man kaum ermessen könne.

Auch Rüedi wurde von einem Bewohner des Sternenhofs begleitet, der eine schwere Alkoholiker-Karriere hinter sich hat. Aufgrund eines Raubüberfalls litt der heute 53-jährige unter Schlafstörungen, die er mit täglich einer Flasche Wodka zu beheben versuchte. Er zog sich zurück, ging nicht mehr aus dem Haus, bis er eines Tage auf der Notfallstation landete. Nun lebt er im Sternenhof und berichtet: «Das Personal gibt mir Sicherheit und ich komme endlich wieder zur Ruhe.» Sein Aufruf: «Hinschauen, wenn jemand sich zurückzieht, nachfragen, helfen.»

«Die grösste Hilfe ist Wertschätzung», betonte in der Folge auch eine Mitarbeiterin des Sternenhofes auf die Frage aus dem Publikum, wie Betroffenen zu begegnen sei. Wichtig sei, dranzubleiben, auch wenn sich der Erfolg nicht kurzfristig einstelle, die Menschen nicht abzuschreiben.

Heinz Weber

Bildlegende: Ueli Mäder / Persönliches Portrait – vielschichtige Analyse

Foto hw

Internet-Adressen für Betroffene und Ratsuchende

Suchtberatung BS: www.bs.ch/themen/gesundheit/sucht

Suchtberatung Region Basel: www.suchthilfe.ch

Suchtberatung Blaues Kreuz: www.mituns.ch/de