Der kleine weisse Fleck auf der Europa-Karte

SP-Nationalrat Eric Nussbaumer (BL), erfahrener Europapolitiker, legte an der Monatsveranstaltung vom 8. Mai die Komplexität des Verhältnisses Schweiz-EU verständlich und launig dar. Aus seiner Haltung, dass früher oder später kein Weg an einem Beitritt zur EU vorbeiführen wird, machte er auch diesmal keinen Hehl. Und in einer spontan beantragten Konsultativabstimmung sprach sich die grosse Mehrheit der anwesenden Pantherinnen und Panther für einen Beitritt aus.

Er sitzt seit langem in der aussenpolitischen Kommission des Nationalrates und erlebt die Entwicklungen der schwierigen Beziehungen Schweiz-EU von nah. Als Baselbieter SP-Parlamentarier und Mitglied der Grauen Panther verfügt er über einen wertvollen Blick hinter die europapolitischen Kulissen, wie Co-Präsident Hanspeter Meier es ausdrückte. Sein Engagement sei für die Nordwestschweiz von besonderer Bedeutung.

In seiner Tour d’Horizon unter dem Titel „Schweiz-EU: Wie weiter?“ räumte Nussbaumer zunächst mit ein paar Irrtümern auf. Viele Leute in der Schweiz glaubten nicht nur, dass Europa ohne die Schweiz gar nicht funktioniere, sondern dass die EU demnächst zusammenbrechen werde. Nichts falscher als das, meinte er: Im Gegenteil schreite die Integration weiter voran. Die EU habe im Laufe der Zeit mehr Zuständigkeiten in gewissen Politikbereichen von den Mitgliedstaaten erhalten – ein Weg, welcher der Entwicklung von Kantonen und Bund recht ähnlichsieht. „Trotzdem tun wir uns so schwer damit“.

Gleiche Lage wie vor 10 Jahren

1992 ging der EWR-Beitritt an der Urne bachab. Die Folge davon: Der Bundesrat setzte fortan auf sektorielle Verträge wie bei Freizügigkeit, Luftverkehr- und Landverkehrsabkommen etc., später folgten die Bilateralen II mit Schengen/Dublin und vielem mehr. Das funktionierte gar nicht schlecht, man war nicht unzufrieden damit. Die Suche nach anderen Lösungen ging zwar weiter, aber die Meinung, es gebe nur den bilateralen Weg, verfestigte sich. Bis die EU meinte: Auf die Länge war das nicht so gemeint, liebe Schweiz. Wenn ihr alle anderen Wege ausschliesst, dann wollen wir ein institutionelles Abkommen. Eure Teilverträge müssen aufdatiert werden, denn die Rechtsentwicklung bei den Mitgliedstaaten geht weiter. 2008 bis 2013 dauerte das Tauziehen, erläuterte Nussbaumer, dann begann der Bundesrat Verhandlungen über institutionelle Fragen. Abstimmungen wie das JA zur SVP-Masseneinwanderungsinitiative störten, trotzdem entschied sich die EU zum Verhandeln. Doch das lange und schwierige Tauziehen um ein Rahmenabkommen führte zu keinem Resultat und wurde bekanntlich 2021 vom Bundesrat abgebrochen. Derzeit befinden wir uns in derselben Lage wie vor zehn Jahren.

Was wollen wir?

Der Bundesrat will die bilateralen Päckli behalten, aber die Nachbarn als EU-Mitglieder entwickeln eben ihr Recht weiter, wir nicht. Deshalb erodieren die Bilateralen allmählich, da die Schweiz keine dynamische Weiterführung kennt. Nussbaumer: „Das ist die Herausforderung“. Die von der EU geforderte dynamische Rechtsübernahme ist ebenso nötig wie direktdemokratisch schwierig. Vor allem Nationalkonservative sperren sich mit aller Kraft dagegen und reden etwa davon, mal den Gotthard zu sperren u.dgl. Alles völlig illusorisch, sagt Nussbaumer.

Die Knackpunkte

Seit 15 Jahren besteht die Herausforderung für die Schweiz aus diesen Faktoren:

  • Eine Lösung für die dynamische Rechtsentwicklung und -übernahme als Nicht-Mitglied muss gefunden werden.
  • Eine Instanz zur Streitbeilegung bei Uneinigkeit, zur Gerichtsbarkeit mit der EU fehlt. Blocher spricht von fremden Richtern. Wenn die Schweiz EU-Recht übernimmt, ist in der Tat der Europäische Gerichtshof abschliessend zuständig.
  • Die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen müssen fair sein, d.h. überall müssen gleiche Regeln des Binnenmarkts gelten.
  • Kohäsionsleistung: Was ist der CH-Beitrag in den europäischen Finanzausgleich? EWR- Länder zahlen viel mehr als wir.

Fazit: Wir brauchen irgendetwas mit der EU, aber wir können es nicht lösen: Das ist das Spannungsfeld.

Schädliche Blockaden

Die Blockade mit der EU schade nicht zuletzt dem Standort Nordwestschweiz, fuhr Nussbaumer fort: Firmen könnten wegziehen, wenn keine Lösungen kommen. Und die europäischen Staaten bleiben für Jahrzehnte unsere wichtigsten Handelspartner. Jetzt wird aber wieder „sondiert“ (effektiv wird vielleicht sogar diskret verhandelt, spekuliert Nussbaumer). Interessant: Nach dem Abbruch von 2021 möchte der Bundesrat sogar ein noch grösseres Paket schaffen, neu mit den Bereichen Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Die Diskussion stehe noch bevor.

Seine Ausführungen schloss der Nationalrat mit einem „etwas speziellen Wort“ für einen SP-Mann, nämlich mit einem Zitat der Interpharma. Sie schreibt: „Offenheit und Vernetzung gehören zum Erfolgsrezept der Schweiz.“ Die EU entwickle das Recht dynamisch immer weiter, die Schweizer Pharmaindustrie aber sitze nirgendwo mit am Tisch. Eine Lösung mit der EU liege deshalb auch im Interesse der Arbeitsplätze.

Diskussion

Die zahlreichen Fragen aus den Reihen der etwa 70 Anwesenden drehten sich etwa um das als ungenügend gewertete Engagement der Wirtschaft für die EU, um Arbeit und Lohn (das EU-Recht erlaubt kein Lohndumping mehr), um die Wirkungen des Mythos Neutralität auf die EU-Diskussion (Neutralität hält Nussbaumer keineswegs für einen Hemmschuh für Integration, siehe Österreich). Ein Votant fragte lakonisch: Wie schlecht muss es der Schweiz gehen, bis sie „zu Kreuze kriecht“? Nussbaumer: Vorerst gehe es uns ja gut, aber die Verschlechterung komme schleichend, wie das Beispiel der Finanzindustrie derzeit zeige. Auch deshalb brauche es eine rechtssichere Beziehung zur EU. Der Befürchtung, ob ein EU-Beitritt die direkte Demokratie mehr oder weniger abschaffen würde, widersprach Nussbaumer klar: Konfliktpotential gäbe es gewiss, aber ebenso gewiss keine Abschaffung.

Pro EU-Beitritt

Dann geschah etwas Ungewöhnliches: Die Versammlung folgte einem spontanen Antrag auf eine Konsultativabstimmung zur EU. Resultat: Die grosse Mehrheit der Anwesenden sprach sich gegen vier Nein-Voten und einige Enthaltungen für einen EU-Beitritt aus.

Und wie kommen wir jetzt zu einer Lösung? Nussbaumer skizzierte seine Vorstellung: Der Bundesrat wolle bis im Sommer Eckpunkte eines Verhandlungsmandats präsentieren, dann werde in 2 bis 3 Jahren ein konkretes Mandat folgen mit bilateralen Verträgen als Kern. Eine solche Vorlage hält er für gewinnbar an der Urne. Wenn es eine gute Bundesrats-Vorlage ist und sie einen gangbaren Weg zur Umsetzung aufzeigt.

Besondere Freude hat Nussbaumer an einer Äusserung der frischgebackenen Bundesrätin Baume-Schneider: „Beitritt später ja, warum nicht?“ Der Nationalrat zeigte während seines Referats eine Europakarte mit einem kleinen weissen Fleck mittendrin. „Offenbar hat Frau Baume-Schneider diese Karte besonders gut angeschaut“. Und schmunzelnd fügte er an: „Nur diese Karte müsst ihr heute mit nach Hause nehmen“. Der grosse Applaus war ihm sicher.

Übrigens: Im Dezember wird Eric Nussbaumer zum Nationalratspräsidenten gewählt.

Martin Matter

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